Prof. Dr. Alf Lüdtke, 1943-2019 –
Eine persönliche Erinnerung

Alf Lüdtke war in jeder Beziehung ein Ausnahmehistoriker.

Die Polizeigeschichte war nur eines der Themenfelder, die er beackerte. Er hat u.a. zur Geschichte der Arbeit geforscht und geschrieben; Fragen nach dem Mitmachen und dem Hinnehmen in europäischen Diktaturen haben ihn umgetrieben: Diese Themen standen nicht unverbunden nebeneinander: Das Polizieren war Arbeit und das Mitnehmen und das Hinnehmen der Polizierten war nicht nur Wegducken und Unterordnen. Um das verstehen zu können, waren kategoriale Bezüge wichtig, die er unter ‚Praxis‘, ‚Alltag‘ und ‚Eigensinn‘ fasste. Alf Lüdtke hat in seinen Schriften die Wirkungsmächtigkeit dieser Bezüge zur Erklärung individuellen Handels von Frauen und Männern in einer Weise vermitteln können, die es einer Generation von Historikerinnen und Historikern erlaubte, sich dieser Konzepte in ihren eigenen Forschungen kreativ zu bedienen. Das war ganz in Alf Lüdtke Sinne, denn auch das Abgeben und das Teilen von Ideen, von Konzepten und von Forschungsperspektiven machte ihn zum Ausnahmehistoriker.

Portrait Alf Lüdtke © Ingo Schrader

Aber zurück zur Polizeigeschichte: Beim Historikertag 1990 in Bochum initiierte und leitete Alf Lüdtke eine Sektion zur Geschichte der Polizei – seinerzeit ein erstmaliges und einzigartiges Ereignis auf einem deutschen Historikertag. Das lokale Organisationsteam der gastgebenden Universität Bochum hatte einen Veranstaltungssaal von der Größe einer Aula zur Verfügung gestellt, in der sich ein eher ‚kleiner Haufen‘ polizeigeschichtlich interessierter Vortragender und Zuhörerinnen und Zuhörer, der sich dann einfand, eigentlich recht verloren vorkam. Die Folgeveranstaltung im Jahr darauf wurde von einem Kollegen aus der Schweiz organisiert, der damals Leiter der historischen Forschungsstelle des Kantons Basel-Land war. Diese Forschungsstelle war in den Räumen der psychiatrischen Klinik des Kantons untergebracht, was damals einige der beteiligten Polizeihistoriker an der vermeintlich wahnwitzigen Idee zweifeln ließ, Polizeigeschichte im deutschsprachigen Raum auf eine breite Basis zu stellen.

An dieser breiten Basis wurde in den 1990er Jahren und in späteren Jahren intensiv gearbeitet. Parallel zu dieser von Alf Lüdtke angestoßenen Initiative universitärer Historikerinnen und Historiker manifestierte sich in der 1989 erfolgten Gründung der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte ein verstärktes Interesse von Angehörigen der Polizei an der Geschichte der eigenen Institution. die Interessen und das Engagement dieser Polizistinnen und Polizisten, sowie der Historikerinnen und Historiker, die sich Jahr für Jahr anlässlich der Kolloquien für Polizeigeschichte trafen, konnte sehr bald zusammengeführt werden.

Trotz des Engagements der an diesen polizeihistorischen – wie man heute sagen würde – ‚Startups‘ Beteiligten, war in den ersten Jahren nicht unbedingt erkennbar, wie weit diese Initiativen führen würden. Aber die von Alf Lüdtke angestoßene Initiative fand Fortsetzungen: In bis dato (2019) dreißig Folgejahren wurde–von einer kürzlichen einjährigen Unterbrechung abgesehen– jedes Jahr ein Kolloquium zur Geschichte der Polizei veranstaltet. Auch für 2020 und 2021 sind weitere Kolloquien in Vorbereitung.

Mit der Initiierung der Kolloquien und den Anregungen, die sich aus Alf Lüdtkes Forschungen ableiten ließen, etablierte sich eine neue Sicht auf die Geschichte der Polizei, die die bis dato üblichen Ansätze der Literatur zur Geschichte der Polizei hinter sich ließen Bis zu den 1980er Jahren war Polizeigeschichte als akademisches Fach im deutschsprachigen Raum vor allem eine Disziplin gewesen, die die Polizei vor dem Hintergrund ihrer normativer Vorgaben und entlang ihrer institutioneller Strukturen und Abläufe beschrieb. Das Normative wurde dabei häufig mit dem Tatsächlichen verwechselt. Als polizeiinterne Geschichtsschreibung fiel Polizeigeschichte bis zu diesem Zeitpunkt häufig in eine apologetischen Selbstvergewisserung zurück, die die Polizeientwicklung in Westdeutschland nach 1945 vor allem als Neuanfang herausstellte. Alf Lüdtkes Ansatz dagegen, der in der alltäglichen Praxis der Polizisten die Strukturen und die Praktiken staatlicher Herrschaft zu rekonstruieren versuchte, begründete quasi eine ‚Neue Polizeigeschichte, die sich nicht länger auf die Beschreibung institutioneller Strukturen reduzieren ließ. Diese ‚Neue Polizeigeschichte’ machte Alf Lüdtke in einer Vielzahl von eigenen Büchern und vor allem auch in Beiträgen zu Büchern von Kolleginnen und Kollegen sichtbar, zu denen er eingeladen worden war. Diese Neue Polizeigeschichte zeigte sich in späteren Jahren auch in einer Reihe von Publikationen, in denen Polizeibehörden deutscher Großstädte und regionale Polizeibehörden mit großem Engagement und unter Beteiligung nicht nur fachkundiger Angehöriger der jeweiligen Behörden, sondern auch universitärer Forscherinnen und Forscher die eigene Geschichte aufarbeiteten. In den letzten Jahren richtete sich das Interesse Alf Lüdtkes verstärkt auf Formen und Funktionen der Staatsgewalt, die – und auch da blieb er seinen Ansätzen treu – nicht nur in den großen Formationen, sondern auch in den Alltagspraktiken einzelner Polizisten ‚vor Ort‘ suchte.

Mit Alf Lüdtke verliert die deutsche Polizeigeschichte nicht nur einen großen Anreger und Inspirator, sondern für viele auch einen Freund und Kollegen, mit dem sie einen langen Weg gemeinsam gegangen sind.


Herbert Reinke
Brüssel/Berlin


Herbert Reinkes Nachruf für Alf Lüdtke erschien zuerst in der Zeitschrift: Archiv für Polizeigeschichte 2 (2019), S. 27-28.